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Als knapp Zwanzigjähriger arbeitete ich jede Freitag- und Samstagnacht in einer ranzigen, aber stets gut besuchten Landdiskothek. Ich war damals Schankkellner und Herr über sämtliche Getränke des Clubs. Wobei, in dieser Gegend und in einem solchen Laden mit ‚Getränken‘ vor allem Bier gemeint war. Nur wenige Autominuten entfernt war der eiserne Vorhang im Böhmerwald bzw. Bayerischen Wald gerade erst gefallen. Die Bandbreite beschränkte sich auf Helles oder Dunkles, das man wahlweise mit Eckes Edelkirsch und/oder einer Cola anreicherte. Kurz: Kulturell gesehen gab es durchaus Luft nach oben.

Über Wochen lag in der besagten Diskothek eine herrenlose Lodenjacke am Eingang. Irgendwann einmal nahm ich mich ihrer an. Nach fast 30 Jahren habe und trage ich ihn noch heute, diesen ‚Janker‘ aus schlichtem, grauem Filz mit schwarzem Saum und glänzenden Metallknöpfen. Manche nennen solche kratzigen Jacken auch ‚Walker‘, ähnlich dem englischen ‚walk‘. Eine österreichische, textile Spezialität, die eigentlich schon in vorchristlicher Zeit bekannt war. Man wirkte oder walkte mit den Füssen mühevoll struppige, lose Wollfäden in sauren Bädern, früher in Urin, zu festem Stoff. Mit diesem Bild aufreibender Arbeit vor Augen wurde mir klar, was eigentlich das abgegriffene Wort ‚Wirkung‘ ganz ursprünglich meinen könnte.

Wirkung ist die Summe aus Vielem. Ein einzelner Faden macht noch keinen strapazierfähigen Stoff. Die Verbindung vieler Fäden macht es aus, egal ob gewoben, gestrickt oder eben gewirkt wurde. Wenn ganz viele widerborstige Fäden so kraftvoll durchgeknetet, gewalkt und ineinander gepressst wurden bis sie unverrückbar verflochten sind und sich gegenseitig halten, dann wird der Stoff besser, widerstandsfähiger.

In der Architektur, wie im Leben, verstehe ich diese Arbeit ähnlich und bringe ebenso Fäden in Verbindung und wechselseitige Abhängigkeit. Den Gebrauch mit dem baulichen Kontext, den Wünschen der Auftraggeber, den konstruktiven Bedingungen, der Geschichte, den Normen und Gesetzen, dem Ausdruck, den Ansprüchen von Fachstellen, den städtebaulichen Setzungen, Körnungen und natürlich den Terminen sowie Kosten. Stets gilt es den anfänglich widerspenstigen und unüberschaubaren Wust geschmeidig zu machen.

Lange Zeit dachte ich naiv als Architekt einen kreativen Job zu machen. Heute erkenne und schätze ich, dass das nur einen bescheidenen Teil meiner Arbeit ausmacht. Es ist vielmehr ein beständiges, sanftes Ineinanderflechten vielfältigster Anforderungen bis der Stoff dicht und fest verwirkt wurde – und dann, dann ist ein Projekt fertig und entfaltet seine, ihm ganz eigene Wirkung. Das finde ich magisch. Dann zeigt sich Schönheit.

Wenn also jemand einwirft, es brauche halt eine kreative Idee, einen genialen Einfall, dann denke ich: Mal sehen, ob wir diesen losen Faden noch mit dem Stoff zusammenwirken können oder ob es eine blosse, vielleicht sogar modische Idee bleibt, derer man schnell einmal überdrüssig werden könnte. Vielleicht, so denke ich bräuchte es eher weniger ‚kreative‘ Ideen und lose Fäden. Ich weiss es nicht. Meine Lodenjacke hat jedenfalls keine losen Fäden. Ich mag sie, noch heute, nach dreissig Jahren. Sie ist immer noch schön.

 

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Einer der Essays, die in der Südostschweiz erschienen. Jeder mit dem Anspruch grosse Themen der Architektur möglichst einfach und in wenigen Zeilen zugänglich zu machen.

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