Am Beispiel der Baumgartenalp. Was bedeutet für uns der Heimatbegriff, wenn wir ihn nicht mehr mit den Anforderungen an das Tierwohl vereinen können? Was passiert, wenn durchaus berechtigte Ansprüche von einer Älperlerfamilie sowie die Auflagen der Abteilung Landwirtschaft mit unseren baukulturellen Vorstellungen aufeinander prallen? Dies bekam ich als Bauberater zu spüren.
Nach mehreren Variantenstudien, nach Stunden von Gesprächen, Sitzungen mit der Bauherrschaft und den kantonalen Stellen inkl. der Pächterschaft wurde allen Beteiligten allmählich klar wie verfahren die Situation bereits war. Der bisherige, über Jahre durch Spendengelder und Beiträge gestützte Alpbetrieb, war für eine weitere sinnvolle Bewirtschaftung schlicht zu klein geworden. Der Stall genügte nicht mehr. Andere würden entgegnen das Vieh sei mittlerweile zu gross. In jedem Fall konnte der alte Stall nicht mehr als solcher verwendet werden. Er taugte noch als Lagerraum und sollte mit einem zeitgemässen Neubau in unmittelbarer Nähe ergänzt werden. Ein breiter Stall aus Holz mit Leimbindern sollte es ein. Über dem Stallraum ein gut begehbarer Heuboden und darunter eine grosse, vorstehende Jauchegrube aus Beton. Schnell wurde das als Dutzendware abgetan, die noch sorgfältiger zu gestalten sei. Man sprach über Natursteinverblendungen und Kniestockhöhen. Doch weitaus grundlegender war für mich eine ganz andere Frage: Der Standort.
Als ich einmal gefragt wurde wie in diesem unwirtlichen Gelände ein geeigneter Bauplatz zu finden sei, antwortete ich: Ein Gebäude sei hier oben eigentlich wie ein grosses Tier. Es würde versuchen sich vor die kleine Kuppe zu legen. Es wäre vom Wind geschützt. Den Kopf würde es zur Aussicht hin wenden, hinab zum Tal. So meine ich die meisten hochalpinen Bauten relativ gut beschreiben zu können: Als schutzbietende und schutzsuchende, eher geduckte Nutzbauten, die Traufe mannshoch. Gebaut würde mit dem was vor Ort zu finden ist. Vor allem Steine. Nicht unerhebliche Fragen zum Gefälle von Milch- und Abwasserleitungen und reibungslose Betriebsabläufe waren selbstredend damit noch nicht beantwortet. Als Laie in der Alpwirtschaft waren für mich nicht alle Gründe für einen Neubau nachvollziehbar, letztlich aber doch akzeptabel. Für den neuen Stall wurde entgegen meinem Vorschlag ein Standort auf der anderen Seite des Ensembles gesucht. Nicht wie erwartet, geschützt vor der Kuppe, sondern oben, darauf! Das Haus erfüllt zwar so den gewünschten betrieblichen Komfort, aber es stellt durch seine ausgestellte Lage das über Jahrhunderte gewachsene Gesamtensemble in Frage. Freilich ist der Bau von Braunwald aus hinter dem Ensemble versteckt, dennoch verweigert er sich ganz grundsätzlich der demütig wirkenden Haltung der Ursprungsbauten. Die Kuppe wird statt zur Schutzwand nun zur Plattform. Das Haus scheint darauf grösser als es tatsächlich ist. Statt mit dem Berg, scheint man gegen den Berg zu bauen. Die Situation war für mich als Architekt unbefriedigend. Für die Bauherrschaft und Pächter waren meine Ausführungen nachvollziehbar, aber doch keine Lösung für die Zukunft. Wir erarbeiteten weitere Vorschläge, die wir stets offen diskutieren konnten. Das Für und Wider endete bei einer krassen und für manche Ohren erschreckenden Fragestellung:
Wäre es nicht allen dienlich den bestehenden, eigentlich unzulänglichen Stall rückzubauen und durch einen qualitätsvollen grösseren Neubau an gleicher Stelle zu ersetzen? Könnte so Tradition, also die Weitergabe, das Weiterarbeiten an der Baukultur auch verstanden werden? Zu stärken was unsere Identität ausmacht, mutig aus dem Weg zu räumen was uns hindert. Diese Frage hätte ich gerne mit allen Beteiligten weiter ausgelotet.
Die Hürden aber waren mittlerweile zu gross. Das Geld zu knapp, die Termine zu eng. Obendrein: Die jahrelange zu den alten Stallungen getragene Sorge konnte nicht an einem Nachmittag so einfach weggewischt werden. Es hätte mehr Zeit und Projektvarianten gebraucht. Die Verbundenheit mit den alten Gebäuden, obwohl sie nun nur zweckentfremdet nutzbar waren wiegte schwer und führte in langen Gesprächen dazu den weniger glücklichen, aber wenigsten machbaren und damit existensichernden Neubau zu wagen. Wir alle waren uns nun trotz der genannten Bedenken einig den Neubau zu gewähren. Es sollte noch gebaut werden können bevor die Seilbahn schliessen würde und keine Geräte mehr auf die Alp transportiert werden könnten.
Wie wenig schwarz und weiss viele unserer aktuellen Fragestellungen sind, wie schwierig Antworten zu formulieren sind, wurde mir wieder vor Augen geführt. Niemand, auch wir Bauberater, kennen stets die richtige Lösung. Vermeintlich richtige Lösungen gibt es ohnehin nur für einen, eher eng gefassten Blickwinkel. Perspektiven aber ändern sich je nach Rolle. Von Bauherr, zu Pächter, zu Kanton – bis hin zur Kuh selbst.
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Es bleibt die essentielle Frage, ob nicht schon vor Jahren, schon bevor viele Gelder in die Instandhaltung flossen, mutiger über einen Ersatzneubauten hätte diskutiert werden dürfen. Manchmal wäre es zielführender, die gewagtere Lösung anzupeilen um Tradition sinnvoll weiterzuentwickeln, statt unzulängliche Bauten der Erhaltung Willen zu konservieren und gleichzeitig das Gesamtbild aus den Augen verlieren. Ich bin unsicher. Sicher aber geben sie mir recht, wenn ich fordere, dass wir von Fall zu Fall darüber sprechen sollten. Wir müssen uns weiterhin darüber auseinandersetzen, um unsere Kultur und Heimat nicht einzufrieren, sondern ihr mit gestaltender Hand Sorge tragen.
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Der Beitrag entstand für das Jahrbuch 2018/2019 des Glarner Heimatschutzes.