Um Rituale soll es gehen, weit über folkloristische Bräuche und Traditionen hinaus, damit wir ganz grundsätzlich über unsere Beziehung zur Welt und damit über Architektur nachdenken können.
Im Trott des Alltags spulen wir tagtäglich Routinen ab. Zähneputzen, duschen, Tee kochen etc. Es sind über Jahre eingeübte, oft gedankenlose, intime Abläufe und feste Bestandteile unseres Alltags. Sind wir aber von starken Wendepunkten und Umbrüchen in unserem Leben betroffen, dann entwachsen aus den Routinen möglicherweise gar bedeutungsvolle Riten. Wie geht man mit dem schmerzvollen Tod eines geliebten Menschen um, den man nicht nur selbst beklagt. Wie teilt man Leid oder Freude mit anderen? Gibt es Übereinkünfte dafür? Eine Gewohnheit?1 Eine Art gemeinsames Handlungsgerüst zur Orientierung? Bei einer Hochzeit, einer Taufe, einer reichen Ernte, einem Schulabschluss oder Staatsempfang?
Erst im vereinten Glauben an eine weitreichendere Bedeutsamkeit, vielleicht Transzendenz, wachsen private Routinen zu kollektiv getragenen, kulturellen Handlungen mit Mustercharakter an. Rituale weisen über den Alltag hinaus. Sie schaffen bedeutenden und bedeutungsvollen Abstand dazu. Denken wir an Teezeremonien, an denen nicht einfach nur Tee zubereitet wird, sondern Architektur, Geschichte, Meditation sowie die kulturelle Bedeutung von Material und Wasser wundervoll ineinander verwoben werden. Riten weisen über sich hinaus, genauso wie es die Schönheit tut.
Rituale scheinen mir aber bedroht. Weltweit. Sie vergehen, weil sie für viele Menschen an Bedeutung verlieren. Kollektive Gedankengebäude1 gibt es immer weniger oder sie werden in soziale Medien und unverfängliche Crowd-Funding-Hilfsprojekte verlagert. Wir meinen vermutlich weniger aufeinander angewiesen zu sein. Unmittelbare Bedrohungen erleben wir kaum mehr, nicht wahr? Ernteausfälle kompensieren wir mit Einkäufen aus verschont gebliebenen Regionen und mit Versicherungsgeldern. Unwetter sagen uns Wetterprognosen vorher. Mit SUVs und Outdookleidung wappnen wir uns vor Unbill. Im Winter frieren wir nicht. Die Heizung läuft, das Warmwasser kommt aus dem Duschkopf. Um den Weihnachtsbaum, ursprünglich Symbol der Lebenskraft, versammeln sich zwar noch immer viele, aber der wohlige Kontrast zu den finsteren und kalten Wintertagen draussen wird immer weniger spürbar. Vielleicht wirkt der Brauch deswegen für etliche kitschig und leer.
Wir verlieren also die Beziehung dazu woher die Dinge kommen. Alles scheint uns frei verfügbar und bestellbar. Ein Wisch, ein Klick. Morgen geliefert. Die Lampe angestellt. Damit geht eine Beziehungslosigkeit einher, die uns zur Beliebigkeit verleitet und wertvolle Dinge entwertet. Mit dem Prinzip Entropie erklärt vermute ich, dass je mehr Energie unserer Lebenswelt als geschlossenes System zugefügt wird, desto mehr Dispersion, also Vermischungs- und Auflösungserscheinung gibt es. Es ist wie bei einer Brausetablette, die sich im Wasserglas vollständig auflöst. Sie wieder aus dem Wasser zu bekommen ist fast unmöglich. Bei Unwettern staune ich nicht nur über die gewaltigen Kräfte, sondern über die schiere Flut an Gegenständen und Bauteilen, die durch die Luft geblasen oder in Schlammlawinen umher geschoben werden. Der Tsunami in Okinawa löste bei mir auch deswegen tiefe Betroffenheit aus.
« We are threatened today by two kinds of environmental degradation: one is pollution – a menace that we all acknowledge; the other is the loss of meaning. For the first time in human history, people are systematically building meaningless places. » 2
Das Zitat von Eugene Victor, der vor ca. 30 Jahren die Umweltverschmutzung und Bedeutungslosigkeit beklagte, begleitet mich seit einiger Zeit. Wir würden unsere Umwelt verschmutzen und bedeutungslose Ort bauen. Recht hat er. Wenn ich offenen Auges durch das Mittelland fahre. Beide Probleme aber fussen auf denselben Ursachen.
Es geht weniger darum regenerative, im Grund unerschöpfliche Energien zu suchen oder effiziente ingeniöse Lösungen, die wiederum dazu führen, dass wir noch mehr, mit noch besserem Gewissen konsumieren. So werden wir in der Sackgasse der Moderne bleiben, die noch mehr, zu noch günstigeren Preisen für eine noch grössere Masse zu produzieren sucht. Wir sollten Beziehung herstellen. Nicht nur indem wir regionale Produkte kaufen, sondern in jeder Hinsicht, in architektonischer Hinsicht. Es geht mir um räumliche, soziale Beziehungen. Wir sollten keine Häuser bauen, sondern Orte schaffen. Wir sollten Beziehungsarbeiter sein, Therapeuten und Heiler die Material in Konstruktionen in sinnige, innige Beziehung setzen. Wir sollten Räume zur Wirklichkeit, zu unseren klimatischen Bedingungen, zu unserer Geschichte und Kultur, zu unserer Landschaft, zu unseren Umfeld, zum Topos in Beziehung setzen.
« We do not provide houses. We have to achieve them. » 3
Hier möchte ich dieses Semester ansetzen. Ich möchte mit unseren Kollegen des KIT, eine gemeinsame Haltung entwickeln, die die hinderlichen Trennungen der Moderne lindern kann. Gerne würde ich die landläufigen Antagonismen von Architektur und Natur, von Subjekt und Objekt auflösen. Wir wollen nicht nach ingeniösen Lösungen suchen und auch nicht danach unseren Komfort zu beschränken, was niemand will. Können wir eine Architektur suchen, die nicht Verzicht lehrt, sondern Nicht-Verfügbarkeit als Qualität entdecken lässt? Der Soziologe Hartmut Rosa sagt, dass Resonanz unter anderem nur dann entstehen kann, wenn die Verfügbarkeit eingeschränkt ist, wenn nicht klar ist, ob beispielsweise ein Brotteig an einem Tag gelingt und an einem anderen Tag weniger.
« Das Klima ist weniger eine Angelegenheit der Verschmutzung, sondern ein Indikator dafür, wie unsere menschliche Psyche und Kultur von unserem natürlichen Lebensraum getrennt ist. » 5
Doch was heisst das in der Architektur? Noch weiss ich es nicht. Ein möglicher Ansatz könnte das Beispiel von Gion Caminada sein. Er entwirft eine Lebensvorstellung in der man mit Rhythmen, mit den Jahres- und Tageszeiten lebt. Die räumlichen Qualitäten unterscheiden sich von Ort zu Ort im Haus. Sie werden graduell erfahren, von innen nach aussen, von warm über temperiert zu kalt. Es gibt Übergangsräume, eine Art Grauräume (Kisho Kurokawa), die weder Schwarz noch Weiss, weder Innen noch Aussen sind. Wer behauptet, dass ein Schlafzimmer beheizt sein muss? Ist das unumstössliche Konvention oder reicht ein dickes Daunenduvet im kühlen Schlafzimmer? Sitze ich winters nah am Ofen und in der sommerlichen Mittagshitze auf der schattigen Laube? Die Heizung ist nicht überall verfügbar. So lebt man in resonanten Räumen.
Die Themenlage scheint einfach und doch so tief und weitreichend, dass ich sie hier nur anreissen kann. Ich hoffe, es gelingt uns, der nicht mehr lokalen, sondern globalen Bedrohungslage aus einer gemeinsamen Überzeugung heraus zu begegnen. Die Rituale um den Lake Biwa sind Startpunkt der Diskussionen dafür. Darauf freue ich mich dieses Semester sehr.
We are tackling a topic that is certainly not easy, but it is nevertheless essential that it be addressed. It will be about rituals that, far beyond folkloric customs and traditions, allow us to think fundamentally about our relationship to the world and thus about architecture.
We reel off our daily routines from day to day: Brushing our teeth, taking a shower, making tea, etc. These are intimate procedures that we have been performing for years, often without thinking about what we are doing, and they are a fixed part of our daily lives. But if we encounter major changes and upheavals in our lives, then routines may even grow into meaningful rituals. How does one deal with the painful death of a loved one, whom does not mourn alone. How do we share sorrow or joy with others? Do common conventions exist for such things? Does some kind of common framework of action exist to guide us? For example, at weddings, baptisms, bountiful harvests, graduations or official receptions?
Only in the unified belief in a more far-reaching significance, perhaps transcendence, do private routines evolve into collectively supported, cultural behaviours that have a characteristic pattern. Rituals go beyond everyday life, creating significant and meaningful distance to it. Think of tea ceremonies, which not only involve making tea, but also architecture, history, meditation – and interweave the cultural meaning of materials and water in a wonderful way. Rites point beyond themselves, just as beauty does.
However, I consider rituals to be under threat, and this worldwide. They are disappearing because they are losing their meaning for many people. Collective systems of thought 2 are becoming fewer and fewer, or they are being relegated to social media and innocuous crowd-funding aid projects. We probably feel less reliant on each other. We hardly experience immediate threats anymore, do we? We compensate for crop failures with purchases from regions that have been spared, and insurance money recompenses for losses. Storms are predicted by weather forecasts. We arm ourselves against adversity with SUVs and outdoor clothing. We do not freeze in winter. We enjoy heating, hot water comes out of the shower head. Many people still gather around the Christmas tree, originally a symbol of life. But the pleasant contrast to the dark and cold winter days outside is becoming increasingly less palpable. Perhaps that is why many find the custom kitschy and empty today.
So we are losing our connection to where things come from. Everything seems to be freely available and can be ordered: one swipe, one click, delivered the next day. Lighting is turned on. Accompanying this is a feeling of unconnectedness, which leads us to succumb to arbitrariness and deprives valuable things of their value. Explained in terms of the entropy principle, I suspect that the more energy that is pumped into to our living world as a closed system, the more dispersion, i.e., blending and dissolution, there is. It can be compared to effervescent tablets that dissolve completely in a glass of water. Getting them out of the water again is almost impossible. During storms, I am amazed not only by the tremendous forces, but by the deluge of objects and segments of buildings that are blown through the air or pushed about in mudslides. For this reason, I was also very concerned about the tsunami in Okinawa.
« We are threatened today by two kinds of environmental degradation: one is pollution – a menace that we all acknowledge; the other is the loss of meaning. For the first time in human history, people are systematically building meaningless places. » 2
This quote from Eugene Victor, who lamented environmental pollution and the absence of meaning about 30 years ago, has been in the back of my mind for some time. He is right: we pollute our environment and build meaningless places. When I drive open-eyed over the Swiss Plateau. Both problems, however, are based on the same causes.
The issue at hand is not so much about looking for regenerative, basically inexhaustible kinds of energy or efficient, ingenious solutions, which in turn lead to us consuming even more while feeling even less guilty about doing so than before. In this way we would be caught in a cul-de-sac of the modern world, seeking to produce even more, at even cheaper prices for an even greater mass of the population. Rather, we should be generating connectedness. Not only by buying regional products, but in every way, also architecturally. I am concerned about spatial, social relationships. We should not be building houses but creating places. We should be workers, therapists and healers with the intent of “connectedness” who put the material in constructions in meaningful relationship. We should relate spaces to reality/ to the reality around us, to our climatic conditions, to our history and culture, to our landscape, to our environment and to the topoi of a specific place.
« We do not provide houses. We have to achieve them. » 3
This is where I would like to begin this semester. Together with our colleagues at KIT, I would like to develop a common outlook that can alleviate the dividing impediments in the modern world. I dearly wish to dissolve the conventional antagonism between architecture and nature, subject and object. We do not seek ingenious solutions, nor do we want to limit our comforts – nobody wants that. Can we find kinds of architecture that do not preach self-denial, but enable us to discover non-availability as a quality? Sociologist Hartmut Rosa claims that our interest, among other things, is only aroused when availability is limited, when it is not certain whether, for example, a bread dough will bring successful results one day and less so another day.
« Climate is less a matter of pollution than an indicator for how the human psyche and culture have been alienated from the natural world we live in.» 4
But what does that mean in architecture? I don‘t know yet. One possible approach is the example of Gion Caminada. He sketches a conception of life that is determined by rhythms, by the seasons and times of day. In houses, the spatial qualities differ from place to place. They are experienced gradually, from inside to outside, from warm to temperate to cold. There are transitional spaces, so-called grey spaces (Kisho Kurokawa), which are neither black nor white, neither inside nor outside. Who says that a bedroom must be heated? Is it an irrevocable convention or is a thick down comforter in a cool bedroom enough? Do I sit near the stove in winter and in a shady arbour in the summer midday heat? Heating is not available everywhere. That is how you live in responsive spaces.
The topic seems simple, yet so comprehensive and far-reaching that I can only touch on it here. I hope that we will succeed in confronting the threatening situation, which is no longer local but global, with mutual convictions. The rituals around Lake Biwa are the points of departure for discussions on this, which I very much look forward this semester.
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1 Byung Chul Han: Vom Verschwinden der Rituale, Ritual als Behausung. vgl. Ge-Wohnheit>
2 Eugene Victor Walter: ‚Placeways: A Theory of the Human Environment‘ (Chapter Hill: University of North Carolina Press, 1988
3 Michael Benedict: ‚For an Architecture of Reality‘ (Englisch) Taschenbuch, Lumen Books; Auflage: Reprint (1. Januar 1992)
4 John Soane