Eine kleine Rede zum Abschiedskolloquium von Dieter Geissbühler, am 2. Oktober 2020 an der Hochschule Luzern. In seiner 20-jährigen Tätigkeit als Dozent und Forscher prägte er massgeblich das Institut für Architektur mit seinem Engagement. Die kleine Rede wurde hier aufgezeichnet. Unterhalb des Bilder finden sie die Niederschrift.
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Jemand bemerkte vor Kurzem: Mit Dieter ginge eine Ära zu Ende. Das empfinde ich gelinde ausgedrückt, als ziemliche Herausforderung, aber eine auf die ich mich freue. Genauso herausfordernd und freudebringend kam mir Dein Auftrag an uns vor: Sprecht zu ‚Durchdringung als Bedingung‘.
Das fühlt sich an wie ‚Entwerfen‘. Man bekommt eine Aufgabenstellung, in groben Zügen, so als Brocken hingeworfen und danach ist man auf sich allein gestellt. Am Ende präsentiert man ein bauliches, und hoffentlich gedankliches Konstrukt, sonst ginge es ja nur um Gebautes, und nicht um Architektur, und dann wird bewertet, unter anderem, in den Kategorien Plausibilität und Relevanz. Einfach gesagt: Stimmt das, und braucht’s das?
Nun, hoffe ich heute, gegenüber Dir Dieter, der mit dem heutigen Abend das Ende einer Ära markiert, gleichwohl Plausibles und Relevantes beitragen zu können. Vielleicht mag es etwas anekdotisch und sprunghaft anmuten, aber du batest ja ausdrücklich um einen persönlichen Beitrag.
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Zu Beginn dachte ich, mit ‚Durchdringung als Bedingung‘ an konstruktive Fügungen, an Durchdringungen wie Durchbohrungen. Mir kamen Bilder von Dübeln und Schrauben in den Sinn. Zwar lässt sich wohl gut über Schraubverbindungen diskutieren und ich hätte gerne über mein Lieblingsthema, die Tektonik, referieren können, nur zielen meine Schlüsse heute in eine andere Richtung. Soweit ich Deine Sichtweise zu kennen glaube, werden wir schlussendlich aber gar nicht soweit voneinander entfernt liegen.
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Nun übernehme ich also den Fokus Material, den Du massgeblich geprägt hast. Wohlgemerkt nicht den Fokus Materialität. Diesen Hinweis halte ich für notwendig, weil die Öffnung, der als einschränkend empfundenen Fokusbegriffe, uns allen Dozierenden im Master, als gemeinsames Bedürfnis scheint. Zwar liebe ich die Poesie der Werkstoffe und ihrer Verbringung, die buchstäblich berührenden, taktilen Qualitäten von Material. Die stoffliche Bedeutungsebene möchte ich aber gerne für heute einmal hinten an stellen. Ich möchte auf die inhaltliche Bedeutung von Material zu sprechen kommen, denn Material ist Alles, alles woraus, und womit wir arbeiten. Es ist das was wir vor uns finden, das was unsere jeweiligen Prämissen und Grundlagen darstellt. Dieser gedehnte ‚Wortsinn‘ interessiert mich sehr, sowohl als Lehrer, wie auch als Architekt.
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Seit ein paar Wochen begleitet mich ein Zitat von Eugene Victor, der vor ca. 30 Jahren die Umweltverschmutzung und Bedeutungslosigkeit pointiert beklagte:
“We are threatened today by two kinds of environmental degradation: one is pollution – a menace that we all acknowledge; the other is the loss of meaning. For the first time in human history, people are systematically building meaningless places.”
Dazu möchte und muss ich wohl keine Beispiele anführen. Fahren sie ein wenig Überland, schauen sie in der Vogelperspektive von Google auf schweizer Gemeinden im Mittelland. Sie werden sehen was er meinen könnte.
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Was können wir beitragen? Wie können wir etwas ändern? Einerseits bauen wir für Menschen, für ihre Wünsche und Bedürfnisse. Sie sind ebenso Teil unseres Materials, ohne das despektierlich zu meinen. Wir sind, um wahrhaftig Architektinnnen und Architekten sein zu können, hoffentlich sozial und menschenfreundlich. In meinen Augen impliziert das bereits klimagerechte Denkweisen. Ökologische Forderungen sind uns ja nicht neu, nur heute verstehe ich, auf welche Art auch immer gestaltetes, ökologisches Bauen, nicht mehr als eine Forderung unter vielen, sondern, als eine ganz selbstverständliche, nicht mehr verhandelbare Grundlage. Sie muss zwingende Prämisse aller architektonischen Arbeit sein. Punktum.
Doch wie vermeiden wir Bedeutungslosigkeit, wie erreichen wir Relevanz?
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Ich habe eine österreichische Lodenjacke mitgebracht. Sie fand ich, vor 30 Jahren, in einer ranzigen Rockdiskothek. Dort arbeitete ich als Schankkellner. Für einen Lodenfilz, werden Wollfäden in Essig – früher gerne auch in UIrin – so lange ineinandergewoben, so ineinander gewirkt und gewalkt – die Jacke heisst dementsprechend auch Walker – dass die Fäden beginnen sich zu verhaken, ineinanderzugreifen, dicht und unverrückbar werden. ‚Architektonische Wirkung‘, so verstehe ich das, ist ebenso ein Gewirk aus Fäden, in unverrückbare, gegenseitige Abhängigkeiten gebracht. Sie sind nichts anderes, als aus verschiedenen, meist recht widerborstigen Fäden zusammengesetzte Geflechte. Daher spreche ich bei meinen Arbeiten gerne von Sinngeflechten. Sinnfälligen Konstrukten. Dicht gewoben. Das ergibt Relevanz.
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Flurin Bisig, ein befreundeter Bildhauer, erzählte mir, dass Alberto Giacometti in einem Genfer Hotelzimmer seine ersten, heute so bekannten feingliedrigen Skulpturen geformt hatte. In der Kunstgeschichte ist diese über drei jahre gehende Zeit als Genfer Krise beschrieben. Genf war Zufluchtsort etlicher Künstler währends des zweiten Weltkrieges. Er knetete den Ton so lange, arbeitet ihn so oft und stark durch, bis viele, der trocken gewordenen Brösel, nicht mehr hielten und zu Boden fielen. Mit der Durchbildung, Durchdringung des Materials blieb immer weniger, womit er noch hätte arbeiten können. Die Figuren wurden schmaler, zerbrechlicher und gleichzeitig stärker im Ausdruck. Es blieb nur das notwendigste, vielleicht die Essenz einer gehenden oder sitzenden Figur. Erst durch die stete, mühevolle Durchbildung des Tons, schien eine ebenso duchdringende Essenz zu Tage zu treten. Eine Idee. Eine echte Idee. Kein Einfall.
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Es geht mir darum, einen ganzheitlichen, einen auf alle Aspekte ausgewogenen Blick zu gewinnen. Diese spektrale Sicht eines Entwerfers braucht – mich zumindest – ganz und gar. Wenn wir im Bett, nachts schlaflos daran denken, beim Spaziergang, eigentlich immer. Egon Eiermann wurden von seiner Frau Papierservietten zum Mittagstisch verboten. Er konnte nicht aufhören zu denken und zu skizzieren. Mich erfasst in solchen Zeiten des Entwurfs jeweils eine eigenartige Melancholie und Fokussierung. Vermutlich ist es eine Art Kräftebündelung, um komplexe Gemenge durchdringen zu können. Wer das nicht kennt, wer denkt entwerfen sei ein kreativer Spass, der hat vermutlich noch nicht entworfen. Ich empfehle dazu ein Bild. Die Radierung ‚Melancholia‘ von Albrecht Dürer.
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Die breite, integrative Entwurfsmethode entwickelte sich in den letzten Jahren. Wir wurden noch mit dem Glauben an die grosse Idee, an die richtige Idee verführt. Über die letzten Jahre merkte ich, dass in der stetigen Befragung, in der stetig wechselnden Perspektive und Mittelwahl eine grosse Kraft liegen kann. Sie ist zwar eher eine leise, aber deswegen eine nicht minder grosse. Als Studierender wurde ich gelehrt, über Recherchen architektonischer Familien und daraus fabrizierter Collagen einen direkten Zugang zu finden. Heute ist das für mich keine Hauptsache mehr, sondern ein Blickwinkel, ein Faden unter vielen, den es zu verstehen gilt. Haltung fusst nicht auf Einfällen, sondern auf einem vertieftem Verständnis – und das gewinnt man durch stete Befragung. Haltung wird nicht von einem Einfall getragen. So mühe ich mich jeweils an den ‚Warums‘ ab, an den entwerferischen Absichten. Wieso ist etwas so?, warum mache ich das so, immer in der Hoffnung sinnige Antworten zu finden und auch im Glauben daran, dass man vermeintlich grossen Ideen mit Wahrheitsanspruch stets mit Misstrauen begegnen darf und soll.
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Man könnte meinen, wer derartig schlichtend arbeitet, in fast therapeutischer Manier Widersprüchliches und Widerspenstiges zu einem Bild ineinander arbeitet, der könnte Gefahr laufen mediokre Pojekte zu entwerfen. Ich entgegne aber, dass genau hier die Stärke liegt. Viele Köche verderben ja nur den Brei, wenn nicht klar ist was gekocht werden soll. Sobald sich die gemeinsame Intention einstellt, die divergierenden Fäden in sinnhaften Zusammenhang gebracht wurden und sich eine, allen Teilen gemeinsame, Intention einstellt, dann offenbart sich ein narrativer Kern – und damit erst ein Projekt. Ich denke, es gibt kein Projekt ,ohne Narrativ.
So wie wir in der Sprache, verbales, paraverbales und nonverbales in Übereinstimmung bringen, so bringen wir in der Architektur tektonisches, typologisches und topologisches in Übereinstimmung. Was uns in der Sprache selbstverständlich ist, erachte ich für mich in der architektonischen Sprache genau gleich. Es fühlt sich gut an, wenn sich ein Gefühl von mathematischer Logik und Zwangsläufigkeit einstellt, ein, so muss es sein. Es geht gar nicht anders. Tektonik, Typus, und Topos (nichts anderes als der Ort, der Gebrauch, Machart und Ausdruck) müssen vom gleichen Spirit durchdrungen sein. Diese Durchdringung ist Bedingung für Signifikanz. Vornehmlich entstehen leisere Projekte, mit der feinen Klinge geschlagene und manchmal fast Gestaltloses, doch auch Universelleres. Das ist anstrengend. Es ist aber auch meine Überzeugung.
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Michael Benedict, eine amerikanischer Architekt und Urbanist in Austin, spricht in ‚Architectur for an Reality‘ von ebendieser Signifikanz, auch von verwandten Begriffen, von Essenz, Präsenz und Offenheit. Meine beschriebene ‚Filzjackenmethode‘ zwingt zur umfassenden und umsichtigen Betrachtung. In ihrem Wesen ist sie als integratives, moderierendes (gar moderates?) Verfahren angelegt, das den oft so dominanten Gestaltungswillen – an den ich nicht mehr so recht glauben mag – zwar nicht ausblendet, aber etwas relativiert und in den Hintergrund rückt. Zu meinen Studierenden sage ich manchmal recht spitz: ‚Es ist nicht wichtig was ihr wollt. Verwirklicht den Ort, nicht Euer Ego.‘ Würden wir es schaffen, trotz der Widerborstigkeiten, Wesentliches herauszuschälen und Projekte möglichst vielschichtig zu plausibilisieren, dann wäre auch wieder an eine schöne Überlandfahrt zu denken.
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Natürlich, es ist auch für mich nicht immer einfach meinen Gestaltungsdrang zu bändigen, ja es ist sogar recht schwierig. Oft beginne ich ein Projekt mit dem Wunsch nun endlich einmal etwas aufsehenerregendes, mindestens eine Erfindung zu entwerfen. Mit dem Alter werde ich aber ruhiger. Durch die beständige Arbeit am Projekt wächst ein tieferes Verständnis, und meine eigenen Bedürfnisse nach Ausdruck schwinden. Dann spüre ich, was es wirklich braucht, was nötig ist, damit es stimmt. Heitere Ideen werden von mir heute leichter beerdigt. Vielleicht schätze und verstehe ich heute, nicht nur wegen meines Umzugs in Glarnerland, je länger je mehr rurale, vernakuläre, ja eben wirklich anonyme Bauten. Sie entstanden wohl unter Druck und unter Zwängen, aber sie zeigen mir, dass Architekturen und Ortsbilder, die mich berühren, auf allen Ebenen tragfähig sein müssen. Das macht sie zu gelasseneren, grossartigen Bauten.
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Das in etwa meine ich unter Durchdringung zu verstehen. Ein Durchwalken und Durchteigen, ein sich Einlassen auf das Vorhandene, ein sich beseelen lassen, um den Spirit aus dem vorhandenen Material erwachsen zu lassen. Diese Magie möchte ich Studierende erfahren lassen, wenn ein Projekt vielleicht noch nicht fertig gezeichnet, aber doch fertig gedacht wurde. Wenn man es fühlt, eigentlich fertig zu sein und aufhören darf daran zu arbeiten. Wenn alles gesagt ist, so wie in einer Filmszene, in der Eminem nach einem fulminanten ‚Rap Battle‘ abschliesst und es heisst: Drop the mic!
Das mache ich nun genauso. Ich lege mein Mikrofon ab, in der Hoffnung alles gesagt zu haben.
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Eine kleine Rede zum Abschiedskolloquium „Durchdringung als Bedingung“ von Dieter Geissbühler, am 2. Oktober 2020 an der Hochschule Luzern. In seiner 20- jährigen Tätigkeit als Dozent und Forscher prägte er massgeblich das Institut für Architektur mit seinem Engagement. Die Setzung der Kommas ist weniger einem korrekten Satzbau, als dem Redefluss geschuldet.